Das Drama um die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kataloniens vor mehr als sechs Jahren ist noch lange nicht vorbei.
178 von 350 Abgeordneten der Regierungskoalition, bestehend aus den Sozialisten von Ministerpräsident Pedro Sanchez, einer Linksallianz und verschiedenen Regionalparteien, stimmte für die Vorlage. Die Opposition, bestehend aus der konservativen Volkspartei und der Rechtspartei Vox, stimmte dagegen. Der Senat muss dem Gesetz noch zustimmen. Dort hat die Opposition die Mehrheit. Allerdings kann der Senat das Gesetz nur aufschieben und nicht verhindern.
Mit dem Gesetz wird den Personen, die für die einseitige Unabhängigkeitserklärung von Katalonien 2017 verantwortlich waren, Straffreiheit gewährt. Die zentrale Person ist dabei der ehemalige katalanische Regierungschef Carles Puigdemont, der Europa in Atem hielt, als er am 10. Oktober 2017 in Barcelona einseitig die Unabhängigkeit Kataloniens erklärte.
Das Amnestiegesetz ist noch weiterreichender als eine vorherige Vorlage vom Januar dieses Jahres, welches von Puigdemonts Partei Junts per Catalunya (Gemeinsam für Katalonien) abgelehnt wurde.
Die Regierung sieht das Amnestiegesetz als wichtig für Versöhnung und für die Beendigung des Streites über Katalonien an. Die Opposition kritisierte, dass die Amnestie gegen die Verfassung verstoße und dass es lediglich Sanchez‘ Machterhalt diene. Die Regierung ist auf die Unterstützung von Puigdemonts Partei angewiesen und kam ihr deshalb weit entgegen.
Im Mai diesen Jahres sind Wahlen in Katalonien, und Puigdemont möchte nach der Amnestie wieder für den Posten des Regierungschef der autonomen Region bereit stehen. Das ist allerdings keine ausgemachte Sache: Das Gesetz kann eventuell wegen juristischer und parlamentarischer Verzögerungen noch nicht vor den Wahlen in Kraft treten und Puigdemont wäre damit vor den Wahlen noch nicht amnestiert.
Es sieht auch nicht danach aus, das der Konflikt um Katalonien mit der Amnestie beendet ist: Viele Spanier sind wütend über das Gesetz und fühlen sich von der Regierung verraten.
Der Weg zur Beinahme-Unabhängigkeit
Puigdemonts Unabhängighkeitserklärung von 2017 hatte einen Anlauf von etwa 7 Jahren. Schon ab 2009 wurden als Form des Protestes in einigen katalanischen Städten und Gemeinden Befragungen zur Unabhängigkeit abgehalten. Die Teilnahme war noch recht gering, aber das Thema bekam so immer mehr Aufmerksamkeit. Großdemonstrationen für die Unabhängigkeit unterstützten dies.
Bei den Regionalwahlen von 2010 wurde Artus Mas von der bürgerlichen Partei Convergencia i Unio (CiU) katalanischer Regieringschef mit einer Minderheitsregierung. Mas, der immer mehr in Richtung Unabhängigkeit drückte, kündigte eine Volksbefragung über die Zukunft Kataloniens an, um die Haltung zu einer möglichen Unabhängigkeit zu testen. Die Befragung wurde zwar vom spanischen Verfassungsgericht verboten, aber trotzdem am 9. November 2014 durchgeführt. 80,8 Prozent, bei einer Teilnahme von 36,6 Prozent, votierten mit Ja.
Vor den Regionalwahlen vom September 2015 kam es zur Spaltung der bisher regierenden CiU über die Frage der Unabhängigkeit. Mas formte aus seiner pro-Unabhängigkeitsfraktion zusammen mit der linken ERC, die ebenfalls für Unabhängigkeit ist, eine neue Allianz namens Junts pel Si (Gemeinsam für Ja), die mit dem erklärten Ziel eines Unabhängigkeitsreferendums in die Wahlen zog. Junts pel Si, später in Junts pel Catalunya (Gemeinsam für Katalonien) umbenannt und umgangssprachlich als Junts bekannt, bekam zusammen mit einer weiteren, noch weiter links stehenden pro-Unabhängigkeitsparty namens Candidatura d’Unitat Popular (Kandidatur der Volkseinheit, CUP) eine knappe Mehrheit an Sitzen und kündigte einen Prozess an, der zur Abspaltung Kataloniens von Spanien führen würde.
CUP entzog Mas allerdings wegen Korruptionsvorwürfen die Unterstützung, und Junts einigte sich auf Puigdemont, damals Bürgermeister der Stadt Girona, als Kandidaten für das Regierungsamt. Puigdemont führte den angekündigten Prozess weiter. Die Unabhängigkeit wurde für den 10. Oktober 2017 in Aussicht gestellt und ein Referendum vorbereitet. Die spanische Regierung und das Verfassungsgericht probierten dieses zu verhindern und verboten das Referendum und alle diesbezüglichen Aktionen der katalanischen Regierung. Da die katalanische Regierung allerdings die Polizei und die Behörden kontrollierte, konnte die spanische Regierung erstmal nur drohen.
Das 2017 Referendum und die Unabhängigkeitserklärung
Trotz aller Verbote und Drohungen fand das inoffizielle Referendum am 1. Oktober 2017 statt: eine Mehrheit von 90 Prozent stimmte für die Abspaltung Kataloniens von Spanien, allerdings bei einer Teilnahme von nur 43 Prozent. Die Gegner der Unabhängigkeit boykottierten dieses größtenteils. Das trotz Verbot und Einschüchterung so viele Menschen teilgenommen hatten, wurde von der Regierung Kataloniens als Bestätigung ihrer Politik und als ein beeindruckendes Zeugnis für die Unterstützung für Unabhängigkeit gesehen.
Puigdemont erklärte am 10. Oktober 2017 vor dem Regionalparlament die Unabhängigkeit Kataloniens, worauf die Massen vor dem Parlament in Jubel ausbrachen. Sofort danach fuhr Puigdemont fort und sagte, er setzte die Unabhängigkeit aber sofort wieder aus, um mit der spanischen Regierung in einen Dialog über die Lösung der Unabhängigkeitsfrage zu treten. Es war die kürzeste Unabhängigkeit eines Landes, kaum eine Minute lang. Die Aussetzung der Unabhängigkeit führte auch zu Verwirrung und Spaltung im pro-Unabhängigkeitslager. Nun ergriff die spanische Zentralregierung, die kein Interesse an einem Dialog hatte, um dem Referendum dadurch keinerlei Legitimität zu geben, die Initiative.
Die Verantwortlichen für die Unabhängigkeitserklärung wurden verhaftet und wegen Aufruhrs angeklagt. Die katalonische Regierung wurde von der Zentralregierung am 21. Oktober entmachtet und die katalonische Polizei unter die direkte Kontrolle Madrids gestellt. Auch das katalanische Parlament, welches noch am 27. Oktober für die Ausrufung einer katalanischen Republik gestimmt hatte, wurde aufgelöst. Die Autonomie Kataloniens wurde zwar nicht de jure, aber de facto aufgehoben oder zumindest eingeschränkt. Puigdemont selbst brachte sich mit Teilen seiner Regierung rechtzeitig in Sicherheit, um der spanischen Strafverfolgung zu entgehen.
Die EU zeigt Katalonien die kalte Schulter
Puigdemont flüchtete nach Brüssel in der Hoffnung, das "katalanische Problem ins Herz Europas zu tragen", wie er sich ausdrückte. Immerhin bekennt sich die EU zu Minderheitenrechten und Dialog. Aber die EU, auf die Puigdemont als Vermittler gehofft hatte, hielt sich vornehm zurück und erklärte den Konflikt zur innerspanischen Angelegenheit und liess damit Madrid freie Hand bei der Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegung. Hier sei angemerkt, das die EU in Sachen Kosovo sich nicht derart aus den "inner-serbischen Angelegenheiten" heraushielt. Schon im Anlauf zu dem Referendum hatte die EU erklärt, das Katalonien bei Unabhängigkeit nicht automatisch Mitglied der EU bleiben würde, sondern von vorne wieder eine Mitgliedschaft beantragen musste. Auch dies schwächte das pro-Unabhängigkeitslager.
Aus Brüssel probierte Puigdemont immer wieder, die öffentliche Meinung Spaniens und Europas zu den Strafprozesse gegen ihn und seine Mitstreiter in Spanien zu beeinflussen. Es gab immer wieder Großdemonstrationen für die Inhaftierten. Das Blatt hat sich für Puigdemont und seine Mitstreiter wegen des Amnestiegesetzes nun gewendet und die Karten für die Zukunft Kataloniens und Spaniens werden neu gemischt.
(Quellen: El Pais, BBC, ABC, El Mundo, Wikipedia)
Sebastian Biehl, Jahrgang 1974, arbeitet als Nachrichtenredakteur für die Achse des Guten und lebt, nach vielen Jahren im Ausland, seit 2019 mit seiner Familie in Berlin.