Das rätselhafte Spätwerk Paul Simons

Über ein musikalisches Genie, dem nach der Trennung von seinem Jugendfreund, dem Super-Sänger Art Garfunkel, unglaubliche Comebacks gelangen und der sich künstlerisch immer wieder neu erfindet.

Im Spätsommer des Jahres 2018 erschien das Album „In the Blue Light", und dies schien eine Art Abschied des großen Singer/Songwriters Paul Simon zu sein. Das Album enthielt zum größten Teil sehr nachdenkliche Titel, die aber bereits in anderen Zusammenhängen erschienen waren. Wie in einer Art Selbstgespräch oder einem Rechenschaftsbericht hatte Paul Simon die meisten der Songs von „In the Blue Light" neu aufgenommen, es waren sozusagen Cover-Versionen eigener, älterer Titel. Auffällig war, dass hierbei die frühe Phase Paul Simons, die Zeit, die ihn berühmt gemacht hatte, jene glanzvolle Ära mit seinem Partner Art Garfunkel, vollkommen unberührt blieb. Das Album schloss ab mit „Questions For The Angels", ein Song von 2011. Der Song beginnt mit den schönen Worten:

„A pilgrim on a pilgrimage
Walked across the Brooklyn Bridge
His sneakers torn
In the hour when the homeless
Move their cardboard blankets
And the new day is born"

„Ein Pilger auf der Pilgerreise ging über die Brooklyn Bridge – zerrissenen seine Turnschuhe – in der Stunde, wenn die Obdachlosen ihre Pappdecken bewegen und der neue Tag geboren wird."

Wer möchte, kann in diesem Pilger Paul Simon sehen und in der Pilgerreise seine Reise durch die Musik. Der Obdachlose erinnert auch an den Figurenkreis, den wir aus „The Boxer" schon kennen.

Doch am Ende fragt Paul Simon:

„Wenn alle Menschen auf der Erde und ihre Gebäude verschwunden sind, wird ein Zebra in der afrikanischen Savanne grasen?"

Es ist sicher wohlbedacht, dass Paul Simon dieses Album mit der Frage für die Engel beendet. Paul Simon war immer ein Songwriter, der mehr Fragen stellte als Antworten gab, und das machte einen Teil seiner Größe aus. Er hatte nie das Plakative eines Bob Dylan, teilte mit ihm im besten Fall die Lust am Geschichtenerzählen, ererbt sicher aus der angelsächsischen Balladentradition und angereichert durch den Erzählreichtum jüdischer Überlieferung und Literatur. Müssen wir erwähnen, dass drei der größten amerikanischen Songwriter, Bob Dylan, Leonard Cohen und eben auch Paul Simon, jüdischer Abstammung sind? Wir erwähnen es, denn die amerikanische Kultur verdankt gerade diesen drei Männern so unglaublich viel. Besonders diese drei haben Songwriting in den Stand der Literatur gehoben und dass Bob Dylan anstelle von Paul Simon den Nobelpreis für Literatur bekam, lag vermutlich schlichtweg daran, dass er die Galionsfigur der amerikanischen Folk-Pop-Kultur war, sozusagen der mit den älteren Rechten (beide sind übrigens 1941 geboren), auch die lauteren Fans hatte, der bessere Autor war er keineswegs, der bessere Songschreiber, wenn wir von einem Songschreiber auch ab und an ein paar eingängige Melodien erwarten, sowieso nicht. Bob Dylan ist gut, aber er ist überschätzt. Paul Simon ist gut, aber er ist bis heute unterschätzt.

Paul Simon erfindet sich immer wieder neu

Dabei war Paul Simons Werk zunächst vor allem eine Anlehnung an Bob Dylan. Die allerersten Simon and Garfunkel-Songs sind Bob Dylan nachempfunden. Schnell entwickelt Paul Simon aber einen eigenen musikalischen Stil und eine eigene Art des Geschichtenerzählens. Simon schreibt weniger aufdringlich als der bereits erfolgreiche Rivale. Vor allem in der Zeit in England scheint sein musikalisches Genie zu reifen. Paul Simon ist viel mehr ein Musiker als Bob Dylan das ist. Paul Simon verschlingt nahezu alles, was ihm musikalisch in die Quere kommt. Er liebt ohne Zweifel die Musik und er saugt alles auf und bastelt es in seine eigene Paul-Simon-Welt.

So gelingen dem Künstler nach der Trennung von seinem Jugendfreund, dem Super-Sänger Art Garfunkel, unglaubliche Comebacks. Mal macht er mit souligen Sounds in ironisch-melancholischen Songs wie „50 Ways to Leave Your Lover" von sich hören, dann taucht er auf einmal mit afrikanischen Musikern auf und haut mit „Graceland" ein Album hin, das nach Paul Simon klingt und doch wieder ganz anders. Paul Simon erfindet sich immer wieder neu, aber es scheint bei ihm keine Marotte zu sein. Der kleine große Mann hat einfach Spaß an Musik.

Religiöse Themen stehen bei Paul Simon nie im Vordergrund, Spiritualität sehr wohl. Schon mit Art Garfunkel nahm er Lieder aus dem christlichen Umfeld auf, insbesondere auf der ersten LP sind „Go Tell It On the Mountains" zu hören und eine wunderschöne Fassung des spätmittelalterlichen Benedictus. Dabei unterscheidet Paul Simon ganz gewiss zwischen Religiosität im kirchlichen Sinn und Spiritualität als persönliche Suche nach Gott. Dies kommt besonders in seinem frühen Song „Blessed" zum Ausdruck, wo er den „Church Service" nach einer Aufzählung von Drogen direkt anspricht.

Ein großer Geschichtenerzähler

Und anders als der (mehr oder weniger) messianische Jude Bob Dylan (der dem Maschiach Jeschua mehrere Alben widmete) macht Paul Simon aus seinen religiösen Gedanken keine große Sache. Wenn er „Getting Ready For Christmas Day" singt, mag das schlichtweg nur gute Laune sein, aber auch ganz tiefe spirituelle Verankerung und Hoffnung auf bessere Zeiten. Er überlässt es uns, zu hören, was wir hören wollen. Vor allem zeigt Paul Simon seine Spiritualität als Geschichtenerzähler: In „Once Upon a Time There Was an Ocean" von 2008 macht er scheinbar buddhistische Weisheiten zum Resümee eines arbeitenden Menschen, dem die Zeit zerrinnt, während er frustriert aus dem Fenster schaut, darüber nachdenkt, den Job zu schmeißen, einen Lotto-Schein einzulösen:

„Once upon a time, there was an ocean
But now it's a mountain range
Something unstoppable set into motion
Nothing is different, but everything's changed"

Alles ist verwoben, alles muss erzählt werden, das ganz Private steht neben dem ganz Großen. Die beiden Seiten sind sozusagen Gleichnis füreinander. Die Liebe der Menschen steht neben der Liebe Gottes. In „Love and Hard Times", meiner Meinung nach seinem schönsten Lied nach der Simon-and-Garfunkel-Zeit, erzählt er von Gott und seinem einzigen Sohn, die aus Höflichkeit die Erde besuchen, während weiter Galaxien geboren werden. Dann springt er über und erzählt von seiner Liebe zu einer Frau: „Ich liebte sie, das erste Mal, als ich sie sah, ich weiß, das ist ein altes Klischee." Und „Danke Gott, ich fand dich rechtzeitig".

Man denkt schmunzelnd an Paul Simons späte Liebe, die Songwriterin Edie Brickell, mit der er seit Jahren verheiratet ist, insbesondere wenn man weiß, dass Paul Simon nicht immer großes Glück mit seinen Frauen hatte, vor allem, nachdem seine erste große Liebe, die schüchterne Kathy (hier sei nur der Zaubername erwähnt, wir Fans wissen, wer sie ist, respektieren aber ihre Schüchternheit), die Beziehung beendet hatte, weil sie die zunehmende Popularität von Simon and Garfunkel fürchtete. Es ist die einzige mir bekannte Geschichte, wo eine Frau ihren Mann verlässt, weil er Erfolg hat (umgekehrt, dass eine Frau einem Versager den Rücken kehrt, kommt sicher häufiger vor). Auch dieser wundervolle Song erschien bereits 2011.

Songs als Befragung, Gebet, Meditation

Das blaue Album von 2018 schien wie ein Inhaltverzeichnis und Schlusswort des späten Paul Simon. Paul Simon erklärte, er werde keine Songs mehr schreiben, verließ Brooklyn und siedelte mit seiner Frau nach Dallas um, denn das ist die Heimat seiner Frau. Dann aber kamen die Träume. Zunächst war es wohl nur ein Traum, in dem ihm jemand erzählte, er würde eine Album namens „Seven Psalms" machen. Dann, in mehreren Nächten, jeweils zwischen drei und fünf Uhr, wachte Paul Simon mit einzelnen Textzeilen zu Liedern auf. Es war, als spräche da etwas von außerhalb zu ihm, jedenfalls scheint es Paul Simon so verstanden zu haben. Heraus kam eben „Seven Psalms", ein Album, das nicht nur schon den Namen nach an die Psalme der Bibel erinnert. Aufgenommen hat er es größtenteils in seinem eigenen kleinen Studio in einer ehemaligen Scheune.

In einem Interview erzählt Paul Simon sehr berührend, dass er nicht mehr mit anderen Musikern auftreten kann, da er sein Gehör verliert. Er könne noch komponieren und aufnehmen, aber nicht mehr live spielen. Auch das nimmt er als Aufgabe, noch etwas über das Leben zu lernen, so sagt er, und man sieht, dass es ihn dennoch schmerzt.

Die Songs auf dem 33-minütigen Album kann man alle als Befragung sehen, als Gebet, als Meditation. Sie behandeln religiöse Themen. König David mit seiner Harfe taucht auf, ähnlich wie in Cohens „Hallelujah". Musikalisch beherrscht die gezupfte Gitarre den Klang, da wenigstens scheint Paul Simon zum Anfang zurückzukehren. Er zitiert in „The Lord" sogar mehr oder weniger direkt das Gitarren-Standard „Angie" von Davey Graham, das Paul Simon, damals war es ein Muss für jeden Zupf-Gitarristen, auch eingespielt und schon zu seiner Vorlage für „Somewhere They Can't Find Me" gemacht hatte (und auch dieser Song war textlich mit einem älteren Song verwoben, so wie jeder Song ein Song über einen anderen Song zu sein und jeder Paul-Simon-Song mit einem anderen verbunden scheint).

Eine Welt, die Paul Simon hervorgebracht hat, kann nicht ganz verkehrt sein

Hier nun dezent und nur angedeutet wie ein Gedanke aus einer anderen Zeit, wird diese Musik Muster für ein religiöses Bekenntnis:

„The Lord is my engineer
The Lord is the earth I ride on
The Lord is the face in the atmosphere
The path I slip and I slide on"

Wir hören auch die Partnerin Edie Brickell auf einigen Aufnahmen singen und einen achtköpfigen Chor. Aber die Songs, wenn auch mit Gitarre komponiert, sind nicht so glatt und geradlinig wie Paul Simons frühen Songs. Sie sind auch musikalisch eine Frage. Die Melodien kommen und gehen in kleinen Schlaufen, der Klang franst zuweilen ins Experimentelle aus, dann findet er wieder seine Mitte um die Gitarre. Das Album beginnt schon mit eigenartigen, glockenartigen Klängen und einem Soundteppich, bis die vertraute Gitarre der Sache eine Richtung gibt. Es sind eher biblische Landschaften, die hier in Musik umgesetzt werden. Es sind Wüsten und Oasen, es ist der Weg von Ägypten ins Gelobte Land, auf den Paul Simon uns führt wie ein Moses der Gitarre. Eingängige Ohrwürmer darf man nicht erwarten, aber auf wunderbare Weise bleibt das Gesamtgebilde doch im Kopf, eher wie ein Flechtwerk aus Träumen. Diese Klänge und Zeilen schickt Paul Simon auf die Reise und überlässt es uns, die Geschichten zu vervollständigen. Paul Simon: „The listener completes the song".

Paul Simon tritt zunehmend hinter Paul Simon zurück. Auf die Frage, ob er an sein Erbe denkt, antwortet er, nein, das sei nicht wichtig. So schreibt also einer, der das Songwriting hinter sich gelassen hat.

Als ich mit dreizehn begann, Songs zu schreiben, war mein größter Wunsch, einmal einen „Paul Simon"-Song zu schreiben. Ich wollte nicht so berühmt sein wie er, eigentlich interessierte mich Berühmtsein überhaupt nicht, ich wollte nur in diese Reihe gehören, denn ich betrachtete ihn als Klassiker so, wie klassisch ausgebildete Musiker Bach als ihren Klassiker sehen, ihren Übervater, ihren Propheten, ihren Meister und unbedingt einmal eine Fuge schreiben müssen. Aber immer, wenn ich Paul Simon nacheiferte, machte er schon wieder etwas anderes. So bin ich nun selbst schon fast ein alter Mann und immer noch auf seinen Spuren wie ein Schüler. Aber er ist noch da!

Wenn ich mal wieder auf Familienbesuch in Odense bin, schmeißt spätabends mein Bruder seine riesigen handgefertigten dänischen BKS-Boxen an und lädt Tidal hoch oder sucht alte CDs und Platten zusammen, und bei jeden Besuch gibt es mindestens einen Moment, wo wir Paul Simon hören, manchmal nur „Kathys Song", manchmal frühe Live-Aufnahmen mit Arti, jetzt sicher auch diese seltsamen „Seven Psalms" und die Schliere vom dänischen Regen am Glas des Wintergartens ist die Träne in den Augen eines Zebras in einem Paul-Simon-Song und der Wind, der von der See über die Insel zieht, ist ein Stimmenwirbel in einer Straße in Queens und der kleine Paul wird gleich zu Arti gehen und ihm ein paar neue Akkorde vorspielen. Eine Welt, die Paul Simon hervorgebracht hat, kann nicht ganz verkehrt sein. Merry Christmas, Paul, schreib noch ein paar Zeilen!

 

Snorre Martens Björkson schreibt Erzählungen, Romane, Hörspiele, Kindergeschichten, Theaterstücke und Songs. Er unterrichtet Klavier und leitet zwei Chöre. Privat beschäftigt er sich mit älterer Geschichte, germanischer Dialektologie und den besonderen kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien.

Foto: Matthew Straubmuller CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Johannes Luig / 24.12.2023

Wie wunderschön doch unsere jüdischchristliche Tradition ist. Simon war also auch Jude! Danke für den Text Sagt ein alter Katholik

RMPetersen / 24.12.2023

Sehr, sehr schön, Herr Björkson.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Snorre Martens Björkson, Gastautor / 25.01.2024 / 14:00 / 30

Bahnstreik – Ist das alles noch echt?

Was haben die Massendemonstrationen gegen die AfD, die Deutsche Bahn und Frank Farian gemeinsam? Die Deutsche Bahn und die deutsche Demokratie kommen beide ohne ihren eigentlichen…/ mehr

Snorre Martens Björkson, Gastautor / 26.12.2023 / 14:00 / 11

Cat Stevens und das schlechteste Comeback des Jahres

Ist Cat Stevens zurück? Auch wenn viele Fans jetzt enttäuscht sind: Nein, ist er nicht! Wer wirklich Fan der sagenumwogenden drei Alben des mittleren Cat…/ mehr

Snorre Martens Björkson, Gastautor / 11.11.2023 / 15:00 / 5

Wie die Tontechnik die Beatles erfand

Es war ein langer Weg zu „Now and Then“. Als die Beatles beschlossen, nicht mehr auf Tour zu gehen, wurde dies zum Glücksfall für die Musikgeschichte: Aus der…/ mehr

Snorre Martens Björkson, Gastautor / 22.03.2020 / 06:25 / 32

Kein Buch. Nirgends!

Von Snorre Martens Björkson. Es gibt Zeiten, da fallen Frühling und Herbst zusammen, Tage, da ist das Licht auf eine ähnliche Art mild, und der…/ mehr

Snorre Martens Björkson, Gastautor / 17.11.2019 / 06:19 / 32

Neulich vor der katholischen Kirche

Von Snorre Martens Björkson. Nun ist es wieder so weit: Der Herbst kippt in den Winter, insbesondere im meist schneelos-grauen Norddeutschland zieht ein kalter Wind…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com