Norbert Bolz, Gastautor / 26.09.2021 / 16:00 / Foto: Pete / 12 / Seite ausdrucken

Der moralische Horizont

In unserer Zeit gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Binnenmoral und Außenmoral. Wie konnte es zum Wandel von der Nächstenliebe zur Fernethik kommen?

Moral ist ein Nahsinn. Im Umgang mit den Mitgliedern der eigenen Familie gibt es im Allgemeinen keine moralischen Probleme. Schwieriger wird es schon bei der Frage nach den Verpflichtungen, die man Freunden und Bekannten gegenüber hat. Und bin ich bereit, überhaupt irgendetwas für mein Vaterland zu opfern? Ein Christ kann sich bei der Frage nach dem Grundgesetz der Moral ja an das Gebot der Nächstenliebe halten. Liebe deinen Nächsten. Aber wer ist mein Nächster? Hier gibt es zwei höchst unterschiedliche Antworten, die von zwei höchst interessanten Gestalten verkörpert werden, nämlich vom guten Samariter und Mrs. Jellyby.

Jeder Leser dieser Zeitung kennt natürlich den guten Samariter. Er trifft auf einen hilfsbedürftigen Fremden, sorgt sehr konkret und handfest für ihn und geht dann wieder seiner Wege. Mrs. Jellyby ist eine Figur aus Charles Dickens‘ großem Roman „Bleak House“. Im Unterschied zur Nächstenliebe des guten Samariters – und es ist dieser Unterschied, den die Gutmenschen von heute nicht begreifen – ist die Menschenfreundlichkeit von Mrs. Jellyby „teleskopisch“. Teleskopische Philanthropie – das ist der wunderbar präzise Ausdruck von Dickens für eine Frau, die ihr ganzes Leben dem öffentlichen Engagement für die guten Werke ihres Afrika-Projekts widmet und dafür alle vernachlässigt, die ihr nahe sind – ihre Kinder, ihren Haushalt, ja sich selbst. Dickens sagt sehr schön: Sie konnte nichts sehen, was näher war als Afrika. Ihr Dauerthema war die Bruderschaft der Menschheit.

Wie konnte es zum Wandel von der Nächstenliebe zur Fernethik kommen? Der Kult der Menschheit harmoniert sehr gut mit den bekannten Tendenzen zur One World: wirtschaftliche Globalisierung, medientechnische Weltgesellschaft. Die Anderen sind uns vertrauter und die Brüder fremder geworden. Benjamin Nelson hat das auf die lapidare Formel gebracht: Im modernen Kapitalismus sind alle Brüder, indem sie alle gleichermaßen Andere geworden sind. Es gibt nun keinen Unterschied mehr zwischen Binnenmoral und Außenmoral. Deshalb unterscheidet unsere Kanzlerin auch nicht mehr zwischen Deutschen und Migranten, sondern nur noch zwischen denen, die schon länger hier wohnen, und neu Hinzugekommenen. Die Pathosformeln dafür lauteten dann: Refugees welcome! Wir schaffen das! Wir haben Platz!

Es handelt sich hier um eine unbegrenzte moralische Horizonterweiterung. Die ganze Menschheit ist jetzt Subjekt der Ethik. Doch warum hier stehen bleiben? Konsequent gehen einige Aktivisten noch weiter und fordern zum Beispiel Menschenrechte für Menschenaffen. Der Grenzwert dieser Allmoral wäre die Biophilie, die Liebe zum Lebendigen an sich. Im grünen Zeitalter ist denn auch der Gaia-Kult wiedererwacht, die Feier der Erde als mit allen Mitteln zu schützendes Lebewesen. Wenn man sich nun aber erinnert, dass Moral eigentlich ein Nahsinn ist, wird sofort klar, dass die guten Menschen sich hier selbst überfordern. Und das Ergebnis dieser permanenten Selbstüberforderung kann natürlich nur ein ständig anwachsendes Schuldgefühl sein. Die Allmoral ist also eine Anleitung zum Unglücklichsein.

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Dieter Kief / 26.09.2021

Robert Spaemann hat gesagt, dass die Fenstenliebe keine sinnvolle Variante der Nächsteliebe sei, sondern deren Zerstörung durch Überdehnung. - Der Philosoph Spaemann war zeitweilig Papst-Berater, er wusste wovon er sprach. Wollte keiner hören, als er das sagte. Auch Norbert Bolz nicht, nedwahr. - Wer nicht hören will, muss wiederkäuen. - Eine gerechte Strafe.

Michael Himpelmann / 26.09.2021

Naja Herr Lehnhoff, ich glaube, Sie hängen sich hier an etwas auf, das Herr Bolz weder geschrieben noch gemeint hat.

giesemann gerhard / 26.09.2021

Neulich ein Afrikaner im Fernsehen: Was ist, wenn wir nicht nur Gleichberechtigung wollen, sondern Rache? Warum verlassen Moslem-Männer in Scharen das/ihr gelobte/s Land? Wo sie dort doch Zugriff haben auf die Mädchen ohne Ende? Insbesondere jetzt mit den Taliban? Wenn Frauen und vor allem Mädchen diese Paradiese verlassen wollen, dann habe ich dafür Verständnis. DAS wäre Moral, nicht immer die Falschen unterstützen. L’ami de tout le monde n’est l’ami de personne, Louis Bourdaloue (1632 - 1704).

Holger Sulz / 26.09.2021

In Anbetracht des heutigen Schlachtefestes an der Vernunft streifen meine Gedanken ins ehemalige Birma, das manche Gestrige noch Burma nennen. Dort gab es einst die große Stadt Bagan, die bestimmend über das Land wurde mit der Schaffung unendlicher Reichtümer aufgrund optimaler Handelswege und geschicktem wirtschaften. Sie schwelgten darin und kamen auf die fromme Idee, sie Höherem darbringen zu müssen und fingen an, Tempel zu bauen, einen prachtvoller als den anderen, schließlich so viele, daß das Volk darob verarmte und das Reich schließlich ganz unspektakulär einging, ohne je ernsthaft von außen attackiert worden zu sein- sie verzehrten sich in ihrem Wahn, für das Jenseits alles geben zu müssen. Das Wahlvieh in Schland hat heute darüber entschieden, von welchen der grünrotschwarzmarxistischen Öko-Parteien es künftig ausgesaugt werden will um der Fata Morgana des Klimaheils und der sozialistischen Umverteilung willen. Das Reichsfluchtgesetz ist ab dem 1.1.22 wieder in Kraft. Bedenke stets, worum du bittest, es könnte dir gewährt werden.

K. Nerweiß / 26.09.2021

Der herrschende d e u t s c h e moralische Horizont.

Marco Schulz / 26.09.2021

Der Kult ist nicht einfach so erwacht, er wurde in die westlichen Gesellschaften injiziert. Gezielt, im Rahmen der 68er Kultur, Musik, Yoga, usw.. Er ist bis in die Kirchen vorgedrungen. Wie der Kommunismus kennt der Pantheismus keinen persönlichen Gott. Nun, der Kommunismus kennt gar keinen, hat ein mechanisches Weltbild, das Ergebnis ist jedoch ähnlich. Knackpunkt ist der Zweck der Erde. Aus biblischer Sicht dient die Erde dem Menschen. Da kann man annehmen, Gott hat ein Auge drauf, stellt sicher, dass der Mensch sein Auskommen hat. Meint man, die Erde sei nicht für den Menschen gemacht, zufällig, oder lebendig, kann man leicht in Panik geraten, wenn man Szenarien wie die Klimakatastrophe präsentiert bekommt.

Dr Stefan Lehnhoff / 26.09.2021

Lieber Norbert Bolz, Ein wenig durcheinander. Klar, die Erde ist kein Lebenswesen und Fernmoral ist ein kranker Ersatz für echte Moral. Zumal der echte Effekt oft sogar negativ ist. Grünes Tuen schützt weder Menschen noch „die Natur“ sondern bewirkt das Gegenteil. Tierrechte zu fordern ist aber oft sehr nahe Moral. Alles was Leiden kann muss man moralische Rechte zubilligen. Wer das nicht tut, ist nicht besser als Leute, die Untermenschen erfinden oder Eugenigker wie Gates sind. Ich esse gerne Steaks, darum geht es nicht- wir müssen alle Sterben und vielen Nutztieren geht es besser als ihren Vettern in der Wildnis. Aber die Qualen von Tieren zu fördern oder achselzuckend hinzunehmen ist für mich vollkommen indiskutabel. Also überlegen sich das nochmal, und wenn ich Sie nicht überzeugen konnte, hätte ich gern eine Begründung außer der Bastabehauptung: Der Mensch ist eben einzigartig. So what, er ist auch ein einziges Arschloch. Es ist ein verwandtes Denken, den Menschen zum Krebs der Erde oder zur einzigen Spezies mit Rechten zu erklären. Es endet immer im Leid. Jemand mit Ihrem scharfen analytischen Verstand müsste das Erkennen, aber eigentlich hätten Sie sich dann auch nicht impfen lassen dürfen.

Klaus Keller / 26.09.2021

St. Martin teilte seinen Mantel. Das müsste man einmal umrechnen. Monatliches Einkommen, Vermögen etc, minus ein halber Mantel. Ich glaube mit einem Soli in der Höhe wäre sogar die fdp einverstanden. Warum die Ferne? ggf ist die verarmte Unterschicht in der Nähe unfreundlich. Man macht mit ihr schlechte Alltagserfahrungen. Muss ggf hinter ihr im Supermarkt an der Kasse stehen und sich die quengelnden Kinder anhören. Sie wählt auch nicht die Partei die man selber wählt. Geht nicht in die gleiche Kirche etc. Ein Bild von einem Kind in Indien und schon wirkt das Mitgefühl. Interessant ist ggf das man sich dabei natürlich unwohl fühlt und dieses eigene Unwohlsein will man abstellen. ggf ist das abstellen des mit-leidens aber ein egoistisches Motiv. Wichtig ist ggf auch das man bei diesem Bild nicht das indische Militär und dessen Interesse an Atomwaffen vor Augen hat. - Ich ziehe es vor Leuten an der Supermarktkasse hin und wieder mit Kleingeld auszuhelfen. Das kostet wirklich wenig und kann durchaus Spass machen und zwar allen beteiligten. Mitleiden muss ich dabei nicht.

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