Die Dresdner Stadtratsfraktion der „Freien Wähler“ hatte für den 9. November, zum Gedenken an die Opfer der „Reichskristallnacht“ 1938, zu einer Lesung aus Victor Klemperers LTI eingeladen. Aber darf heute noch jeder aus dem Werk eines Holocaust-Überlebenden öffentlich vorlesen? Das Gedenken der "Falschen" sollte tatsächlich verhindert werden, aber es fand dennoch statt.
Eine Art Streisand-Effekt war es schon. Und zwar heftig. Es ging zwar nicht um das Unterdrücken einer Nachricht, aber darum eine Veranstaltung zu verhindern – mit dem Ergebnis, dass die Veranstaltung reichlich Aufmerksamkeit erfuhr und Gegenstand zahlreicher Schlagzeilen wurde. Am Ende fand sie schließlich doch statt. Ohne die öffentliche Zuarbeit hätte sich das Ganze wohl eher im überschaubaren, lokalen Rahmen abgespielt. Nun konnte der zur Verfügung stehende, durchaus beachtlich große Raum die Besucher kaum fassen und der Gegenstand der Veranstaltung – Victor Klemperers fast schon als Klassiker zu bezeichnendes Buch „LTI“ – wurde stark beworben. So stark, dass es in der Stadt Dresden, wo besagte Veranstaltung dann eben doch stattfand und deren Regierung beim Verhinderungsversuch eine recht unappetitliche Rolle einnahm, zur Zeit nur schwer zu bekommen sein soll.
Schon längerfristig hatte die Dresdner Stadtratsfraktion der „Freien Wähler“ eine Veranstaltung für den 9. November angekündigt, zum Gedenken an die Opfer der „Reichskristallnacht“ 1938. Die Idee, mit „LTI“ an ein Werk des Dresdner Romanisten Victor Klemperer (1881-1960) über die „Sprache des Dritten Reiches“ (LTI – Lingua Tertii Imperii) zu erinnern, war naheliegend. Vielleicht auch, weil das 1947 veröffentlichte Buch des Holocaust-Überlebenden Klemperer (der zwar konvertiert war, aber nach NS-Begrifflichkeiten als Jude galt) über die nicht nur sprachlichen Abgründe einer totalitären Diktatur heute äußerst lesenswert zu sein scheint.
Und so wie geplant, fand die Veranstaltung unter dem Titel „… die Sprache bringt es an den Tag“, einem Klemperer-Zitat, dann auch statt; im Festsaal des „Landhauses“, welches Stadtmuseum und Städtische Galerie beherbergt. Als maßgebliche Initiatorin führte Susanne Dagen, Stadträtin der „Freien Wähler“ sowie Buchhändlerin und Verlegerin in Dresden-Loschwitz, nach einer Schweigeminute für die Leidtragenden dieses Tages vor 85 Jahren in Leben und Schaffen Klemperers ein. Im Anschluss lasen der Kabarettist Uwe Steimle, die ehemalige Grünen-Politikerin Antje Hermenau, der Germanistik-Professor Ulrich Fröschle sowie der CDU-Politiker Arnold Vaatz aus „LTI“, eingeleitet jeweils mit einigen Worten zum persönlichen Bezug zum Werk. So weit, so gelungen, so würdig – und dass es dem Anlass angemessen war, dürfte außer Frage stehen. Mit Blick auf die Vielzahl der Veranstaltungen, die deutschlandweit aus dem selben Anlass stattfanden aber auch vergleichsweise unspektakulär.
Eigentlich. Wenn da vorher nicht der eine oder andere seiner haltungsgrundierten Meinung hätte handfesten Nachdruck verleihen wollen – der Meinung, dass 2023 in Deutschland nicht jeder einfach mal so aus dem Werk eines Holocaust-Überlebenden öffentlich lesen sollte. Richtige und falsche Vorleser gibt es offenbar und unter den Beteiligten an der Veranstaltung wurden offenbar falsche ausgemacht.
Ein Gedenken als „Verunglimpfung von Holocaustopfern“?
Die Vorgänge an den Tagen vor der Dresdner „LTI“-Lesung sind mehr als eine Peinlichkeit. Das Wort „erbärmlich“ würde es schon besser fassen – ist aber auch noch viel zu harmlos, denn die Äußerungen und Bestrebungen spiegeln die gegenwärtige Atmosphäre wider, in der das Verbot des freien Wortes eine Option geworden zu sein scheint.
So fiel dem Reclam-Verlag kurzfristig ein, dass er der Rechteinhaber des Werkes sei. In einem Artikel, der nahelegt, die Veranstaltung sei bereits abgesagt worden, meldete die „Sächsische Zeitung“, der Verlag habe wissen lassen, dass die Veranstalter eine entsprechende Genehmigung bräuchten – die wir [Reclam] ihnen weder erteilt haben noch erteilen werden. Laut „Sächsischer Zeitung“ erfolgte die Verweigerung aufgrund der Zusammensetzung der Mitwirkenden. Genannt wurden Vaatz, Hermenau und Steimle. Die Veranstalter wandten ein, die Rechte sehr wohl erworben zu haben, wobei hier als Rechtinhaber die „Kiepenheuer-Bühnenvertriebs GmbH“ genannt wurde. Aber da gab es schon eine weitere Absage. Denn auch die Dresdner Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Linke) fühlte sich zum Handeln bemüßigt. Der lange zugesagte Veranstaltungsraum wurde von ihr gekündigt. Einen drohenden Imageschaden für die Landeshauptstadt wollte Frau Klepsch abwenden, denn bei einigen der an der Veranstaltung Beteiligten könne davon ausgegangen werden, dass diese nach diversen Auftritten im rechten politischen Spektrum mit einer Lesung von Klemperer-Texten – einem während der NS-Diktatur verfolgten Dresdner Juden – öffentlich als Verunglimpfung von Holocaustopfern wahrgenommen werden könnte.
Irgendwas scheint dann allerdings doch noch zu funktionieren in diesem Land, zumindest bezüglich der „LTI“-Lesung der Freien Wähler in Dresden. So richtig gut angekommen scheint das mit der „Haltung“ dieses Mal nicht zu sein. Das gönnerhafte Umschwenken der Untersagungs-Bemüher verweist die Unterstellungen in den Verbotsbegründungen allerdings tatsächlich noch auf die Plätze.
Reclam ließ sich – wenige Tage nach der vollmundigen Nicht-Genehmigung – den geplanten Ablauf der Veranstaltung vorlegen. So war es möglich, die Drehung wenigstens mit etwas Schulmeisterei zu versehen. Der Verlag, der ohne Not seinen Ruf recht heftig beschädigt hat, ließ nun wissen: Auf Basis Ihres Konzepts gestatten der Reclam Verlag und die Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH die Lesung des Buches von Victor Klemperer. Und weiter: Wir begrüßen das Konzept Ihrer Veranstaltung als Lesung, bei der es – wie Sie schreiben – möglichst nicht zu einer politischen Auseinandersetzung kommt, sondern bei der das geschehene Unrecht und das Leid der Dresdner Juden im Mittelpunkt steht.
Wo beginnt die Instrumentalisierung des Holocaust?
Der Veranstaltungsort war aber nach wie vor verschlossen. Für Kulturbürgermeisterin Klepsch wurde es durch die Reclam-Entscheidung jedoch arg eng, schließlich musste auch sie sich mit der Schulmeisterrolle bescheiden. Mit Unterstützung des Ersten Bürgermeisters Jan Donhauser (CDU) und im Tonfall eines Gnadenaktes wurde entschieden: Der Festsaal des Landhauses steht am 9. November 2023 für die Veranstaltung der Fraktion Freie Wähler aus formalrechtlichen Gründen zur Verfügung. Wir erwarten, dass jederzeit zum Ausdruck kommt, dass es sich um eine Veranstaltung der Fraktion handelt. Für uns gilt es als selbstverständlich, dass diese Veranstaltung dem Gedenken des 9. November an die Opfer der Pogrome vom 9. November 1938 gegenüber der jüdischen Bevölkerung und des Holocaust jederzeit gerecht wird sowie dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Landes nicht in Zweifel gezogen wird.
Suggestionen wie im letzten Satz, nennen wir sie ruhig sagenhaft unverschämt, kamen im Vorfeld der Veranstaltung allerdings auch von anderer Seite. So etwa beschied der Schriftsteller Jan Kuhlbrodt hinsichtlich „LTI“: „Ich denke, das Buch ist stärker als Steimle“.
Über derartige Vorwürfe zeigte sich Steimle, dem mitunter explizit Antisemitismus untergeschoben wird, bei der Veranstaltung am 9. November in einem kurzen persönlichen Kommentar im Anschluss an seinen Lesepart sichtlich und zurecht empört. Mit Blick auf sein 2017 geführtes Interview mit Justin Sonder, einem Auschwitz-Überlebenden, und die vor wenigen Tagen produzierte Extrausgabe seiner „Aktuellen Kamera“ zu Sonder, beendete Steimle seine Ausführungen mit den gegen die Angreifer gerichteten Worte: „Schämt Euch!“ Und diese Worte sind das Mindeste, was man allen zurufen sollte, die daran mitgewirkt haben, die Lesung und deren Veranstalter in Misskredit zu bringen oder immer noch auf der Suche nach einem Skandal sind (etwa hier und hier). Wo beginnt eigentlich die Instrumentalisierung des Holocaust? Schämt Euch!
Dr. Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.