Im Dezember platzte eine brisante Meldung in die Vorweihnachtszeit: Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Sachsen stufte den AfD-Landesverband Sachsen als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ ein. In einer 2,5-seitigen Medieninformation begründet das LfV seinen Schritt. Mehr Informationen gibt es nicht. Und genau das könnte zu einem riesigen Problem werden für das Landesamt und die sächsische CDU.
Die Pressemitteilung ist auf der Seite des sächsischen LfV abrufbar. Darin wird im ersten Absatz, Zeile 7, darauf hingewiesen, dass ein 134-seitiges Gutachten existieren soll. Auf dessen Grundlage sei die Einstufung des AfD-Landesverbandes Sachsen als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ erfolgt. Der Autor bat beim LfV um eine Kopie des Gutachtens. Die Behörde teilte mit:
„Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass das Gutachten nicht öffentlich zugänglich ist ... Das Gutachten ist ein als Verschlusssache eingestuftes Dokument, das ausschließlich intern verwendet wird.“
Auf die Frage, ob das LfV Sachsen die Kriterien für die Einstufung "gesichert extremistische Bestrebung" selbst festlegt oder ob es konkrete gesetzliche Vorgaben gibt, kommt die Antwort:
„Die Beobachtung von gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen ist Aufgabe des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Sachsen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sächsisches Verfassungsschutzgesetz. Die Voraussetzungen für die Einstufung einer Bestrebung als extremistisch ergeben sich aus weiteren Vorschriften des Gesetzes und der dazu ergangenen Gerichtsentscheidungen.“
Auch nach mehrfacher Durchschau des Gesetzes konnte der Autor keine Hinweise finden, wer und was genau eine Einstufung festlegt.
Ob bei der Sammlung und Verarbeitung des Materials wissenschaftliche Methoden und Standards angewandt wurden (z.B. empirische Datenerhebung, Bildung von Kategorien, Anwendung statistischer Verfahren, qualitative Textanalyse, Beobachterübereinstimmung), wollte ich wissen.
Antwort des LfV: „Die Einstufung erfolgte auf der Grundlage der gesetzlichen Vorschriften.“
Alles „innerdienstliche Angelegenheiten“?
Nicht sehr ergiebig. Letzte Nachfrage: Gab es eine Bewertung des Gutachtens durch mehrere unabhängige Gutachter (peer review)?
Antwort des LfV: „Es erfolgte eine intensive juristische Prüfung des Gutachtens im LfV Sachsen. Zu Einzelheiten der verschiedenen Arbeitsschritte kann aus Gründen des Geheimschutzes keine Auskunft erteilt werden, da dies zumindest in Teilen die Arbeitsweise des LfV Sachsen und somit innerdienstliche Angelegenheiten offenlegen würde. Hierfür bitten wir um Verständnis.“
Dass ein Geheimdienst „innerdienstliche Angelegenheiten offenlegen würde“, hatte ich selbstverständlich nicht erwartet. Aber wenigstens ein paar konkrete Belege für den rechtsextremen Charakter des ganzen AfD-Landesverbandes müssten sich in dem 134-Seiten-Gutachten doch wohl finden lassen, ohne Geheimnisse zu verraten. Oder stammen alle Beweise ausschließlich aus konspirativen Quellen?
Nach den Nicht-Antworten aus dem Amt bleibt öffentlich als Begründung für eine so folgenschwere Einschätzung also nur das übrig, was LfV-Präsident Dirk-Martin Christian, ein aus dem Rheinland stammender Verwaltungsjurist, im 2. Absatz der Pressemitteilung schreibt:
„Wir sind nach einem umfangreichen juristischen Prüfprozess zum Ergebnis gekommen, dass der Landesverband Sachsen der AfD als Beobachtungsobjekt einzustufen ist. In den vier Jahren der intensiven Prüfung haben wir eine Vielzahl von Äußerungen und politischen Forderungen, insbesondere hoher Funktionäre und Mandatsträger der Landespartei sowie der Kreisverbände, also von Personen mit einem hohen Repräsentationsgrad, gesammelt. Diese belegen in der Summe unzweifelhaft, dass der hiesige AfD-Landesverband verfassungsfeindliche Ziele verfolgt.“
Was bedeutet umfangreicher juristischer Prüfprozess? Was bedeutet Summe von Äußerungen? Eine Summe von etwas ist zunächst nur eine quantitative, aber keine qualitative Aussage und kann damit auch nicht als „unzweifelhafter Beleg“ gelten. Ist die Summe der Äußerungen groß? Wie groß? Verglichen womit und mit wem? Gibt es eine Bezugsnorm?
Dann wird der LfV-Präsident im 3. Absatz weiter zitiert mit: „… inhaltlich-programmatisch überwiegt jedoch das aus dem früheren ‚Flügel‘ hervorgegangene sogenannte solidarisch-patriotische Lager, dessen geistiger Vater und Anführer der Rechtsextremist Björn Höcke ist und das inzwischen den Charakter des gesamten Landesverbandes prägt und dominiert.“
Das halte ich für eine problematische Aussage. Das LfV Sachsen hat sich vier Jahre mit dem AfD-Landesverband Sachsen beschäftigt. Wie will die Behörde gemessen haben, dass die beiden Variablen „Höcke“ und „solidarisch-patriotisches Lager“ den sächsischen Landesverband dominieren und prägen? Aus empirischer Perspektive schwierig.
Aneinanderreihung von Zuschreibungen
Tatsächlich hätte zumindest das Merkmal „rechtsextremistisch“ mithilfe einer Faktorenanalyse näher untersucht werden können. Dieses universelle Arbeitspferd der Statistik wird immer dann gern eingesetzt, wenn es darum geht, Vermutungen über bestimmte Verhaltensweisen oder psychologische Merkmale statistisch nachzuweisen. Diese Mühe scheint sich das LfV aber nicht gemacht zu haben.
Haben die Verfassungsschützer doch den Äußerungen von sächsischen AfD-Politikern bestimmte Bedeutungen zugeschrieben, sprich attribuiert? Der Boden wäre schwammig. Da das LfV offenbar auch keine ausgefüllten Fragebögen von AfD-Politikern erhalten hat, in denen diese genau dargelegt haben, wann sie was wo wie gemeint haben, kann das LfV möglicherweise nur auf eigene Interpretationen zurückgreifen. Die Gefahr einer Tendenz zur „wilden“ Kausal-Attribuierung kann nicht ausgeschlossen werden.
Wer sich die Medienmitteilung durchliest, könnte den Eindruck gewinnen, dass es sich um eine Aneinanderreihung von Zuschreibungen handelt. Da heißt es u.a., die AfD benutze „angsteinflößende Wortwahl“ (Seite 2, Absatz 6), benutze „ideologische Kampfbegriffe“ (Seite 2, Absatz 5), mache „pauschal verächtlich“ (Seite 2, Absatz 3), vertrete „typische völkische Positionen“ (Seite 2, Absatz 4), erscheine „wie ein monolithischer Block“ (Seite 2, Absatz 1), schüre „fortwährend Ängste und Ressentiments gegen Ausländer in der Bevölkerung“ (Seit 2, Absatz 6), agitiere „unverändert fortdauernd … gegen (die) politische Grundordnung (Seite 3, Absatz 2), würdige „generell unsere Demokratie“ herab (Seite 3, Absatz 3) – um ein paar Beispiele zu nennen. Und die Belege dafür? Angeblich im Panzerschrank.
Kurze Notiz: Dabei hat das LfV Sachsen in der Vergangenheit solide Arbeit geleistet und verfassungsfeindliche Ziele von Beobachtungsfällen auch klar belegt. Im Verfassungsschutzbericht 2022 haben die sächsischen Geheimdienstler beispielsweise ab Seite 167 ff. detailliert auf die verfassungsfeindlichen Ziele des islamischen Vereins MKBD hingewiesen, dessen Vorstand den Moslembrüdern zuordenbar sei. (Anm. d. Autors: den ideologischen Vätern der terroristischen Hamas). Hier müssten bei der sächsischen Politik eigentlich die Alarmglocken schrillen. Die MKBD plant in Dresden sogar den Bau einer Großmoschee, unter Befürwortung des Dresdner Oberbürgermeisters, des FDP-Politikers Dirk Hilbert.
Wie reagieren die Sachsen?
Die Einstufung des AfD-Landesverbandes Sachsen durch das LfV ohne die Nennung konkreter und belegbarer Gründe hat ein Geschmäckle. Es wäre nicht die erste Attacke aus dem Universum des CDU-geführten sächsischen Innenministeriums vor einer Landtagswahl auf den politischen Hauptkonkurrenten AfD. 2019 kürzte die Landeswahlleiterin, Carolin Schreck, willkürlich die AfD-Landesliste. Schreck war damals Präsidentin des Statistischen Landesamtes Sachsen, das dem Innenministerium untersteht. Erst nach einer Beschwerde der AfD vor dem Sächsischen Verfassungsgericht wurde die Entscheidung teilweise korrigiert. Laut Verfassungsgericht sei die Kürzung der Landesliste verfassungswidrig gewesen.
Das ist vielleicht ein Anlass, einmal kurz in das Sächsische Verfassungsschutzgesetz zu schauen. Da steht in § 3, Absatz 2, Ziffer 1:
„Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes zählen:
das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretungen in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen.“
Die Kürzung der AfD-Landesliste 2019 mithilfe einer Funktionsträgerin aus einer dem CDU-Innenministerium unterstellten Behörde war der klare Versuch, das Recht des Volkes auf eine freie Wahl zu torpedieren. Und damit war es auch ein Angriff auf die sächsische Verfassung. Wird Frau Schreck seitdem beobachtet?
Nun wird der Wind schärfer. Knapp neun Monate vor der Landtagswahl in Sachsen verdichtet sich der Eindruck, dass die sächsische CDU erneut versucht, die AfD aus dem Weg zu räumen. Doch dieser Versuch könnte schnell zum Bumerang werden. Denn obwohl die sächsische AfD von einer Behörde beobachtet wird, die dem CDU-geführten Innenministerium unterstellt ist, sind ihre Umfragewerte weiter hoch. Die Bürger zeigen sich offenbar unbeeindruckt. Unter den Sachsen breitet sich anscheinend das Phänomen der Reaktanz aus: Wenn Menschen empfinden, dass ihre (Entscheidungs-)Freiheit bedroht ist, wenn die Ausübung von Handlungen schwieriger bis unmöglich geworden ist, dann reagieren sie, um ihre bedrohte Freiheit wieder herzustellen. Hohe Einengung der Freiheit = hohe Stärke der Reaktanz.
Oder wie wir Sachsen gerne sagen, wenn die Obrigkeit nervt: Orschwerbleede!
Stephan Kloss ist freier Journalist. Er lebt bei Leipzig und studiert Psychologie.