Der Robert Habecks Roman "Hauke Haiens Tod" angenäherte Spielfilm „Die Flut – Tod am Deich“ wird heute, 27. April, im Ersten zu sehen sein. Kann es Habecks Roman literarisch mit Theodor Storms „Schimmelreiter“ aufnehmen, seinem Vorbild?
Sollte jemand der verbreiteten Behauptung nachgehen, Deutschlands Vizekanzler und Wirtschaftsminister sei ein Kinderbuchautor, so wird ihn das Ergebnis überraschen: Robert Habeck hat, meist gemeinsam mit seiner Frau Andrea Paluch, mehrere Romane und ein Dutzend politische Sachbücher, Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Hinzu kommmen Gedichte und ein Schauspiel über den Kieler Matrosenaufstand 1918. Bisher sind zwei seiner Romane vom SWR und von der ARD verfilmt worden, von einem gibt es eine Übersetzung ins Dänische sowie eine Bühnenfassung, und Habecks Anhänger aus dem Kreis sogenannter Kulturschaffender sprachen ihm schließlich sogar den Ludwig-Börne-Preis zu, der für hervorragende Leistungen in den Bereichen Essay, Kritik und Reportage verliehen wird.
Die Vermutung, mit dieser Ehrung hätten Missgünstige einen mittelmäßigen Autor und sich selbst bloßstellen wollen, ist wahrscheinlich unberechtigt. Stattdessen rühmte der Laudator, Mitherausgeber und Feuilletonist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den Geehrten in der Frankfurter Paulskirche: „Wir leben in der steten Gefahr, dass im politischen Gespräch Argumente nichts mehr zählen, sondern ,Narrative'. Habeck ragt unter denen heraus, die sich dem als Politiker und politischer Publizist widersetzen. Gesellschaftswissenschaftlich informierte und lebensweltlich grundierte Reflexion prägen seine Äußerungen. In den Zwängen der Politik erkämpft er sich auf beeindruckende Weise Freiräume durch Nachdenklichkeit.“
Und ein zeitgenössischer Kritiker schreibt zum Beispiel über Habecks Roman „Hauke Haiens Tod“: „Ein Abenteuerroman, ein Heimatroman, ein Krimi, ein Thriller, fesselnd und verschachtelt bis zuletzt. Kurze, knappe, glasklare Sätze, kurze, knappe Kapitel, ungekünstelte, schlichte Dialoge, gewieft und verschlungen, aufwendig konstruiert, spannungsreich.“ Angesichts solcher Lobpreisung ist es nicht verwunderlich, wenn danach ein Bühnenstück geschaffen wurde, dessen Uraufführung nunmehr im Deutschen Theater stattfindet – unter anderem besetzt mit geistig Behinderten. Neudeutsch und korrekt heißt das natürlich, es spiele ein „mixed abled ensemble“.
Stilblüten
In der Frankfurter Allgemeinen wurde im Hinblick auf „Hauke Haiens Tod“ überdies verzückt behauptet, der Roman sei nichts Geringeres als eine „Weiterdichtung“ von Theodor Storms berühmter Novelle „Der Schimmelreiter“. Welcher Anteil den beiden literarischen Erben Storms da jeweils gebührt, ist nicht ersichtlich, doch darf wohl vermutet werden, dass Habeck, der im Gegensatz zu seiner Frau an der Küste aufwuchs, dazu das meiste beisteuerte. Sein inniges Verhältnis zur See scheint jedenfalls in allen Veröffentlichungen auf, wenn er zum Beispiel schreibt: „Im öligen Morgenlicht schwamm das Meer.“ (aus: „Hauke Haiens Tod“), „Das Meer schob seine Zunge landeinwärts und saugte am klitschigen Schlick.“ (ebenda) oder „Das Meer und ich, wir hatten uns schon so lange nicht in die Augen geschaut.“ (aus: „Unter dem Gully liegt das Meer“)
Es ist bekanntlich nicht einfach, derlei Stilblüten herzustellen. Das Verfahren setzt zumindest einen ungeschützten Aufenthalt am sommerlichen Strand voraus: „Die Sonne brannte ein immer größeres Loch in den Himmel, und ihre Strahlen nagelten sich in unsere Köpfe.“ (ebenda) So etwas kann böse Wirkungen hervorrufen, zum Beispiel den Absatz, mit dem „Hauke Haiens Tod“ beginnt: „Seit drei Tagen saß der Hamster neben dem Laufrad. Er hockte in den Sägespänen und blinzelte nicht einmal, als sie ihn aus dem Käfig nahm. Sein Körper schmiegte sich warm in ihre Hand. Sie fühlte seinen Herzschlag durch das dünne Fell. Die nasse Nase stupste gegen ihre Lippen, als sie ihn küsste. Dann schloss sie ihre Finger um seinen Hals und drückte zu. Die Barthaare begannen zu zittern. Sie hielt den Körper fest, sodass er nicht zappeln konnte. Sein Genick brach mit dem Klack eines Pfennigabsatzes auf Fliesen.“
In der Tat sind das „kurze, knappe, glasklare Sätze“, wie sie der erwähnte Kritiker feiert – längere vermag Habeck offenbar gar nicht zu formen. Als Einleitung zu einer „Weiterdichtung“ von Theodor Storms Novelle erscheinen sie freilich etwas eigenwillig. Storms Text hingegen, den meisten noch aus dem Literaturunterricht bekannt, beginnt auf eine tier- und menschenfreundlichere Weise – damals galt es schließlich noch nicht als literarisch avantgardistisch, die Hinrichtung eines Hamsters mit anschließender Häutung zu schildern. Im Anschluss bedient Habeck sich dann unbekümmert wie ein Kind, das auf dem Dachboden eine vergessene Trödelkiste entdeckt hat, der darin aufbewahrten Bauklötzchen: Schauplätze und Personen, die zumindest dem Namen nach aus Storms „Schimmelreiter“ stammen.
„Weiterdichtung“
Das heißt nicht, Habeck habe sich in unerlaubte Nähe zur Novelle begeben – zwischen den beiden Handlungen liegt schließlich ein ganzes Jahrhundert. Also fügt er dem Roman Elemente hinzu, die von einem modernen Roman erwartet werden: sexuelle Gelüste, christliche Fanatiker, verborgene Dokumente, Inzest, ein gemeinschaftlich begangener Mord sowie allerlei „lebensweltliche Reflexionen“. Für die „Weiterdichtung“ nach Storm mag Habeck sich im Hinblick auf die Vermarktung seines Textes entschieden haben, und auch sein Hang zur Koketterie, schon ersichtlich aus dem Motto, das er dem Roman voranstellte, hat ihn sicherlich dazu getrieben:
„Wir, in unserm Alter, wollen wissen, / Dass der Weg nun wieder rückwärts führt. – / Glücklich, wer den freien Drang noch spürt, / Das Getrunkne über Bord zu pissen.“ (Joachim Ringelnatz. Kopf hoch, mein Freund!)
Ursprünglich hatte Theodor Storm Dasein und Schicksal Hauke Haiens beschrieben, der im Norden Frieslands durch Klugheit, zielstrebigen Ehrgeiz und Tatkraft vom Kleinknecht zum Deichgraf aufsteigt. Von Aberglauben, Missgunst und Trägheit umgeben, setzt er den Bau eines Deiches durch, mit dem weiteres Kulturland (der Hauke-Haien-Koog) gewonnen wird und dessen verringerter Böschungswinkel künftig mehr Sicherheit schafft. Das entfremdet ihn einer überwiegend unwilligen, neidischen Dorfgemeinschaft, die überdies verdrosssen zusehen muss, wie dabei der Wohlstand des Deichgrafen wächst.
Man gehorcht ihm schließlich nur noch, weil man ihn fürchtet, einzig seine Frau Elke bleibt ihm eine verständige Partnerin. Während einer Jahrhundertsturmflut bewährt sich dann der neue Deich, während der alte bricht, weil Hauke Haien in einem Augenblick der Schwäche seinen Widersachern nachgab und die Instandsetzung versäumte. In der verheerenden Überflutung verliert er seine Frau und sein Kind und gibt sich selbst auf. Fortan, so will es die Legende, reitet das Gespenst des Deichgrafen auf einem Schimmel, der ebenfalls nicht von dieser Welt ist, in Sturmnächten ruhelos auf dem Deich entlang.
Der Poesie wird das Fell über die Ohren gezogen
Zum einen der verantwortungsbewusste, geistig überlegene und vorausschauende Deichgraf im Kampf gegen die Gewalt der Natur, zum anderen eine abergläubische, uneinsichtige, angesichts von Neuerungen verdrossene Gemeinschaft: Für einen Politiker der grünen Partei ein unwiderstehliches Thema. Habeck schrieb seinen Roman freilich schon 1999 (Erstveröffentlichung 2001), zehn Jahre bevor er in den schleswig-holsteinischen Landtag einzog und dort Fraktionsvorsitzender wurde. Seither bleibt es ihm erspart, wie Hauke Haien um das Verständnis der Menschen ringen zu müssen, weil er nun über ungleich mehr Macht und Steuergelder verfügt.
Der Anspruch des Deichgrafen gehörte allerdings wohl schon früher zu seinem Wesen, wenngleich es sich noch hinter dem eines bemühten Schriftstellers verbarg, der sich nicht scheute, der Poesie – so wie dem unglücklichen Hamster am Beginnn – das Fell über die Ohren zu ziehen: unvermittelte Zeitsprünge innerhalb der Kapitelchen, abgehackte Sätze, von fortwährenden Belehrungen gestörter Lesefluss. Zudem: Habecks Text lässt völlig vermissen, was die Handlung von Storms Novelle ganz nebenher vermitttelt: das schwierige Dasein der Menschen in der Marschlandschaft, ihre Bräuche, ihre materielle Kultur und schließlich, neben allem, was sie erniedrigt, auch ihre Güte und Nachsicht, ihre Liebe und unbeholfene Zärtlichhkeit.
Das wird unterwürfige Rezensenten aus mancherlei Gründen nicht hindern, weiterhin von einem hervorragend komponierten literarischen Ereignis zu schreiben – inzwischen hat bereits ein dritter Verlag „Hauke Haiens Tod“ veröffentlicht. Theaterstücke und Spielfilme, Bearbeitungen aller Art kommen hinzu, und so wird zum Beispiel der dem Roman angenäherte Spielfilm „Die Flut – Tod am Deich“ am 27. April im Ersten Programm zu sehen sein. (Der 27. April ist übrigens soeben zum zweiten Mal mit dem fragwürdigen Begriff „Tag der Klimademokratie“ bedacht worden.) Dergleichen kann unterhalten und bestenfalls vielleicht Neugier auf das Werk und auf den Lebensweg Theodor Storms wecken. Vermutlich vermittelt der Film jedoch nur, was zeitgemäßer ist: eine beständig genährte Angst vor Katastrophen, der jegliche Poesie weichen muss.
P. Werner Lange, ursprünglich Seemann, ist ein deutscher Autor von Biografien, Reisebeschreibungen, erzählenden Sachbüchern und Hörspielen. Er lebt bei Berlin.
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